Deutsche Einheit – Rechtsangleichung, die Anfänge des Schwulenaktivismus
Der juristische Kontext
Bis ins 19. Jahrhundert wurden in ganz Europa die biblischen Begriffe Sodomie, Sodomit für gleichgeschlechtliche Liebe verwendet. Ab dem 16. Jahrhundert bestraften so genannte Sodomiegesetze gleichgeschlechtliche (sexuelle) Beziehungen vor allem zwischen Männern, die für unnatürlich erklärt und für die in vielen Ländern die Todesstrafe verhängt wurde (im Deutsch-Römischen Reich ab 1532 – in Preußen wurde die Todesstrafe erst 1794 abgeschafft).
Während der Französischen Revolution wurde zum ersten Mal in der Welt die Bestrafung der Sodomie vollständig aufgehoben: Sie war weder gemäß dem Strafgesetzbuch von 1791, noch gemäß dem Code Pénal von Kaiser Napoleon I. aus dem Jahr 1810 strafbar.
Die deutsche Einheit, Rechtsangleichung
Die Einigung der deutschen Territorien, die aus fast 30 Kleinstaaten (Königreichen, Großherzogtümern, Fürstentümern, Stadtstaaten usw.) bestanden, unter Ausschluss der Österreicher, d. h. die Schaffung der so genannten „kleindeutschen Einheit“, wurde zwischen 1864 und 1871 unter der Führung des Königreichs Preußen und des Kanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) durchgeführt.
Im Jahr 1864 eroberten die Preußen Schleswig und Holstein, und 1866 entstand der Norddeutsche Bund. Die süddeutschen Staaten blieben zunächst unabhängig und traten erst 1870 nach dem Deutsch-Französischen Krieg dem Norddeutschen Bund bei.
Das Deutsche Reich wurde offiziell am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses ausgerufen.
Im Zuge der deutschen Einheit wurde auch festgelegt, welche Elemente der Rechtsordnungen der ehemaligen deutschen Staaten in die des vereinigten Deutschen Reiches übernommen werden sollten. In Preußen und vielen anderen deutschen Staaten stand Sodomie unter Strafe, während in einigen weiteren Staaten – insbesondere in den von Napoleon früher eroberten Ländern (Hannover, Württemberg, Bayern) – die Sodomiegesetze bereits früher abgeschafft worden waren. Der § 143 des Preußischen Strafgesetzbuches, der die Beziehungen zwischen Männern unter Strafe stellte, wurde auf preußischen Druck als § 152 in das Strafgesetzbuch des 1866-67 gebildeten Norddeutschen Bundes übernommen.
Auftritt der ersten Schwulenaktivisten
Im Zuge der Debatten um die rechtliche Vereinheitlichung traten die ersten Schwulenaktivisten auf, die sich zum ersten Mal gegen die Kriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe aussprachen.
Karl Heinrich Ulrichs (1825-95) war deutscher Jurist, der in den 1860er Jahren zu publizieren begann, zunächst unter dem Pseudonym Numa Numantius, später unter seinem richtigen Namen. In seiner 1864-65 unter dem Titel Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe erschienenen Essaysammlung vertrat er die Ansicht, dass Männer, die Männer lieben, Vertreter eines dritten Geschlechts sind: sie sind Frauen, die im männlichen Körper geboren wurden. Er nannte sie Urning (ungarisch wird auch die Bezeichnung „uránista“, also Uranist verwendet).
Ulrichs war der erste Mensch weltweit, der sich öffentlich zu seiner eigenen Sexualität bekannte, als er am 29. August 1867 auf dem Münchner Juristenkongress aufgrund seiner persönlichen Beteiligung das Wort ergriff. (Zwischenrufe hinderten ihn allerdings daran, seine Rede zu beenden.)
In den 1860er Jahren führten Ulrichs und Kertbeny eine Korrespondenz und tauschten ihre Ansichten über die gleichgeschlechtliche Liebe aus, wobei sie beide gegen eine Strafverfolgung argumentierten. Kertbeny veröffentlichte 1869 sogar zwei Pamphlete.
1869 bat der preußische Justizminister die Medizinaldeputation um ein Gutachten, um eine wissenschaftliche Grundlage für die Gesetzgebung zu schaffen. Der Ausschuss erklärte, er könne keine wissenschaftliche Grundlage für die Bestrafung des Geschlechtsverkehrs zwischen Männern liefern, da es sich nicht um eine medizinische Frage handele. Schließlich hielten es die deutschen Politiker unter Berufung auf das „gesunde Volksempfinden“ für gerechtfertigt, die strafrechtliche Verfolgung aufrechtzuerhalten.
Das Nachleben des Paragrafen 175
Das Strafgesetzbuch des 1871 gegründeten vereinigten Deutschen Reiches trat am 1. Januar 1872 in Kraft; § 175 bestrafte „unsittliche widernatürliche Handlungen“ mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Das Gesetz bestrafte nur Beziehungen zwischen Männern, nicht zwischen Frauen. Der Geltungsbereich des Gesetzes sollte sich ursprünglich nur auf den Analverkehr erstrecken, wurde aber später von den Oberlandesgerichten auf „beischlafähnliche Handlungen“ ausgedehnt.
Der Paragraf hat sich lange gehalten und mehrere Regime überlebt. Mehrmals, so in den Jahren 1898 und 1909, wurde die Abschaffung des Gesetzes erwogen, dafür setzten sich verschiedene Organisationen der Bewegung ein: das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee unter der Leitung von Magnus Hirschfeld und die „Gemeinschaft der Eigenen“, die sich um Adolf Brand gruppierte. Das Gesetz wurde jedoch Berichten zufolge langer Zeit nicht streng angewandt.
Der Paragraf 175 wurde von den Nationalsozialisten im Jahre 1935 weiter verschärft, und die Zahl der Verfahren und Verurteilungen stieg bis 1945 drastisch an (etwa um das Zehnfache: Solange im Jahr 1931 665 rechtskräftige Urteile gebracht wurden, liegt die Zahl im Jahr 1935 bei 2016 und im Jahr 1938 bei 8562). Ab 1938 wurden die homosexuellen Häftlinge auch in Konzentrationslager geschickt (etwa 15.000 Verurteilte).
Der Paragraf 175 blieb auch nach 1945 in Kraft. In der DDR wurde das Gesetz im Jahre 1950 auf den Stand von vor 1935 zurückgesetzt und 1968 gelockert (von da an waren nur noch Beziehungen zwischen Männern über 18 und unter 18 Jahren strafbar). In der BRD blieben die Beschränkungen jedoch viel länger in Kraft, und das Gesetz wurde erst 1994 nach der Wiedervereinigung abgeschafft.